Juli 2022, ich sitze mit meiner Mutter und meinen drei Kindern beim Italiener. Plötzlich sagt mein jüngstes Kind, Ben (fünfeinhalb Jahre alt, Name geändert) freundlich - aber auch etwas provokant: "Oma, stimmt es, dass Du, als wir herausgefunden haben, dass ich inter bin, wolltest, dass das [meinen 2 älteren Geschwistern] nicht gesagt wird??" .
Ich falle fast hintenüber vor Schreck und bin gleichzeitig beeindruckt und stolz, dass Ben in der Lage ist, so eine Frage zu stellen! Meine Mutter ist auch überrascht und antwortet aus dem Stand, dass sie dachte, es wäre wichtig, erstmal abzuwarten. Und dann fällt in einem vorwurfsvollen Ton der Satz "Und Du BIST ja auch keine Frau!" Ich rolle innerlich mit den Augen, denn es ging nie darum, dass irgendjemand behauptet hat, mein Kind sei eine "Frau". Ben ist intergeschlechtlich, zwischen männlich und weiblich auf körperlicher Ebene. Ich schreibe das hier jetzt ganz deutlich, da es nichts gibt, wofür man sich zu schämen braucht! (Lieber Ben, ich hoffe, Dir ist das nicht später mal zu viel Offenheit!) Ben sieht von außen aus wie ein Junge, hat einen Penis und ein (leeres) Hodensäckchen. Bei der Geburt wurde er als Junge registriert und ein Hodenhochstand diagnostiziert. Es hieß, eine OP sei nötig um die Hoden nach unten zu versetzen. Für die Hormonproduktion, die spätere Fruchtbarkeit und die Minimierung eines Tumorrisikos (das durch den Hodenhochstand bereits 32fach erhöht sei.)
Nach dieser OP, im Aufwachraum, während ich das kleine Händchen meines schlafenden Kindes gehalten habe, der noch an ganz viele Schläuche angeschlossen war und sehr lädiert aussah, wurde mir gesagt, mein Kind habe eine Gebärmutter und vermutlich Eierstöcke. Später stellte sich heraus, dass es keine Eierstöcke, sondern doch Hoden waren. Und dass mein Mann und ich ihm diese seltene Variante der Geschlechtsentwicklung vererbt haben (bei uns beiden war das Gen dazu rezessiv vorhanden). Meinem Kind fehlt ein komplettes Hormon (das Anti-Müller-Hormon), was alle haben, auch Frauen. Dieses Hormon sorgt bei Männern dafür, dass sich die Gebärmutter, die zu Beginn alle Menschen im Mutterleib haben, zurückbildet. Es wird gemessen, wenn man sich als Frau wegen eines unerfüllten Kinderwunsches in Behandlung gibt. Was es genau noch bei Männern macht, scheint noch nicht so erforscht zu sein. Mir wurde gesagt, es gibt weltweit nur 150 der Medizin bekannte Fälle von Bens Diagnose. Es gibt aber viele intergeschlechtliche Menschen, es ist bei weitem nicht so selten, wie man denkt. Zum Beispiel gibt es in Deutschland fast so viele Zwillinge wie inter* Kinder und etwa so viele rothaarige Menschen wie intergeschlechtliche Menschen.(1) Vermutlich gibt es also ungefähr an fast jeder Schule ein inter* Kind. Oft unsichtbar, oft auch dem Menschen selber noch nicht klar.
Inzwischen kenne ich fast 100 intergeschlechtliche Menschen. Sie sind super unterschiedlich, ein bunt gemischter Haufen. Manche werden als Frau wahrgenommen und man würde nicht darauf kommen, dass sie inter* sind. Manche wirken wie Männer. Manche wirken androgyn. Manche sind optisch zwischen den Geschlechtern – zum Beispiel mit Brüsten und Bartwuchs. Manche werden bei der Geburt weiblich zugeordnet aber in der Pubertät beginnt eine Vermännlichung. Dann müssen oft schwierige Entscheidungen gefällt werden: Soll die Pubertät erstmal mit Hormonen aufgehalten werden, um Zeit zu gewinnen sich in Ruhe zu überlegen, was passieren soll? Möchte der Mensch das Geschlecht wechseln und wenn ja, wohin? Es gibt in Deutschland rechtlich 4 Möglichkeiten: männlich, weiblich, divers oder offen gelassen (kein Eintrag). Nicht alle intergeschlechtlichen Menschen entscheiden sich für divers – manchmal mag man einfach das Wort nicht, manchmal identifiziert man sich mit der weiblichen Rolle, manche fühlen sich in der männlichen Rolle wohl. Nicht jeder möchte ständig kämpfen und sich erklären, gerade wenn es mit der sehr intimen Frage zusammenhängt „Was habe ich zwischen den Beinen?“ Gerade deswegen entschließe ich mich als Mutter eines inter* Kindes immer wieder, meine Stimme zu erheben und kundzutun, dass es intergeschlechtliche Menschen gibt. Wenn ich nach meinen Kindern gefragt werden, in Gesprächen mit Bekannten, bei der Schulranzen-Registrierung. Beim Hautarzt, sogar bei der Schulanmeldung: Fast immer gibt es nur die binäre Auswahl: Junge oder Mädchen. Männlich oder weiblich. Aber was, wenn diese Schubladen einfach nicht passen? Wenn der Mensch wirklich einen Hoden und einen Eierstock hat? Oder einen Penis und eine Vagina? Oder wie ein Mädchen wirkt, aber innenliegende Hoden hat? Oft wird in diesen Fällen doch entschieden, diese privaten Details nicht jedem zu erzählen. Gerade deswegen rede ich darüber.
Früher wurde den Eltern dieser Menschen geraten, eine geschlechtsangleichende Operation machen zu lassen. So früh, dass die Kinder nicht mitentscheiden konnten. Und trotzdem häufig traumatisiert wurden. Oft wurde beschlossen, ein Mädchen daraus zu machen. Es wurde eine sogenannten Neovagina konstruiert, die regelmäßig mit harten Dildos von den Eltern „geweitet“ werden sollten, damit diese Menschen später penetriert werden können. Was dies mit den Menschen anstellt und für Folgen für die physische Gesundheit nach sich zieht, danach fragte keiner. Oft wurden den Eltern geraten, die ganze Thematik geheim zu halten, dem Kind selbst nichts zu sagen. Angeblich um sie vor einem erhöhten Suizidrisiko zu schützen. Viele Betroffene sagen heute, dass dieses Schweigen für sie am schlimmsten war. Sie merkten, mit ihnen war etwas anders, aber sie wissen nicht, warum. Die eigenen Eltern sagen einem nicht, was los ist. Dies kam für mich nie in Frage, für mich war klar, ich spreche darüber. Mein Kind ist nicht krank, es ist inter*. Es ist kein medizinischer Notfall. Auch wenn mich der Arzt kurz nach der ersten OP auf dem Handy anrief um einen schnellen Folge-OP-Termin zu vereinbaren, habe ich beschlossen, mich erst mal in Ruhe zu informieren. Erstmal nicht zu operieren. Andere Betroffene zu suchen, mich zu vernetzen.
Was mich immer wieder irritiert ist, wenn ich über die Intergeschlechtlichkeit spreche, dass ab und zu das Thema inter* mit trans* verwechselt wird und Leute mir gegenüber ernsthaft behaupten, das gäbe es doch gar nicht wirklich. Wäre alles Einbildung. Da bin ich empört: etwas auf körperlicher Ebene, messbare Tatsachen von den Organen her! Natürlich gibt es das! Ich suche da das Gespräch und versuche, die Leute zu überzeugen. (Und damit möchte ich übrigens auch nicht sagen, trans* sei Einbildung!)
Meine Mutter findet, ich habe mit dem Thema Intergeschlechtlichkeit das falsche Thema am Wickel. Ich würden den "falschen Baum hochbellen". Ben sei doch gar nicht inter im engeren Sinne. Ich vermute, sie meint um inter zu sein, müsse man ein sichtbar "uneindeutiges" Genital haben. Da bin ich etwas empört, dass trotz langer Reden von meiner Seite ich es immer noch nicht geschafft habe, klarzumachen, dass Ben inter ist.
Ja, Ben ist keine Frau. Aber wenn Ben ein "100%iger Mann" wäre, hätte ich nie entscheiden müssen, ob seine Gebärmutter entfernt wird. Ob er ein halbes Jahr lang Hormone bekommen soll, die im Alter von einem Jahr ihm Genitalbehaarung, Erektionen und Aggressionen bereiten. Das sind Entscheidungen, die schwer fallen. Wo es hilft, wenn man sich mit anderen Betroffenen austauschen kann. Das kann ich in der inter* Community, wo ich schnell eine andere Mutter mit einem Kind mit der gleichen Diagnose finden konnte. Aber auch der Austausch mit Familien und Erwachsenen mit ganz anderen Diagnosen ist für mich hilfreich.
Wir fahren dreimal im Jahr auf Selbsthilfe-Wochenenden. Da können wir uns mit anderen Familien austauschen über die Themen: Wem sagt man wieviel (Verwandtschaft, Kita, Schule, andere Eltern)? Wie finde ich einen guten Umgang mit den jährlichen oder teilweise zweimal jährlichen Untersuchungen, dass mein Kind sie nicht als Qual oder schamvolle Erfahrung erlebt? Wie schaffen wir gut den Übergang von der Kinder-und Jugend- in die Erwachsenenmedizin? Falls Hormone gegeben werden müssen, welche Hormone nehme ich, Tropfen oder Gel und wie viel? Welche Dinge können später wieder rückgängig gemacht werden? (Ein Kehlkopf bleibt. Brüste zu entfernen ist teuer und nicht einfach.) Wie kann ich gut am Ball bleiben mit dem Abtasten der Hoden? Wie kann ich als Mutter dafür sorgen, dass mein Kind, auch wenn es volljährig ist, weiterhin regelmäßig zu Kontrollen geht?
Obwohl Bens Fall selten ist, ist ein medizinischer Aufsatz im Internet zu finden über einen 24jährigen Menschen, der genau Bens Diagnose hatte und einen Tumor bekam. Er verstarb nach 3 Chemotherapien innerhalb von 3 Jahren. Über Ängste und Unsicherheiten tauschen wir uns aus in der Selbsthilfe. Oft machen wir uns Mut, uns psychologische Begleitung zu suchen. Das gegenseitige Verständnis von Menschen, die es wirklich verstehen, da sie etwas Ähnliches durchgemacht haben, ist für mich kostbar.
Es ist für mich unbezahlbar, dass Ben durch den Anschluss an die Selbsthilfe verschiedene Interpersonen kennenlernt. Wie sonst könnte ich ihm vermitteln, was das alles überhaupt bedeutet? Auf dem letzten Treffen kroch Ben abends in mein Bett, hielt meine Hand wie damals im OP Raum und sagte mir: "Mama, INTER ist ein Teil von meinem Leben. Ich bin froh, dass ich hier andere inter Menschen treffen kann." Dann grinste er und schlief ein. Ich bin dankbar, zufrieden und sehr sicher, dass die Offenheit für uns der richtige Weg ist.
…Und im Sexualkundeunterricht vom großen Bruder in der 4. Klasse wurde Intergeschlechtlichkeit mit keinem Wort erwähnt! Obwohl ich den Lehrer kontaktiert hatte und ihn gebeten hatte, es zu berücksichtigen. Es gibt noch viel für mich zu tun! Vielen Dank, falls Sie bis hierhin gelesen haben.
Wer möchte, kann sich hier Geschichten von 6 Erwachsenen inter* Personen durchlesen:
[Frauke Arndt-Kunimoto]
(1) 2017 kam es bei 1,8% der Geburten in Deutschland zu Zwillings- bzw. Mehrlingsgeburten. (Statistisches Bundesamt:https://www.destatis.de/DE/Themen/GesellschaftUmwelt/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/geburten-mehrlinge.html). Etwa 1–2 % der Menschen in Deutschland haben naturrote Haare. (http://www.haar-und-psychologie.de/haarfarben/haarfarben_statistik_deutschland.html). Vgl. Schweizer, Katinka; Richter-Appelt, Hertha (2012): Die Hamburger Studie zur Intersexualität. In: Schweizer, Katinka; Richter-Appelt, Hertha: Intersexualität kontrovers. Gießen: psychosozial Verlag. S. 187-205. Danke an: inter-nrw.de